Zwischen kreativem Schaffen und mentaler Erschöpfung
Der Schriftsteller Nicolai W. Jenny über die Kipppunkte zwischen Schreiben und Depression

Nicolai W. Jenny (*2000) ist Schriftsteller und Literaturwissenschaftler. Er studiert Komparatistik an der Universität Wien und schreibt seit seinem 18. Lebensjahr Prosa, Prosagedichte und Lyrik. 2024 wurde er beim Literaturwettbewerb „Ticketliteratur“ des Poolbar Festivals in Feldkirch ausgezeichnet. Darüber hinaus war er bei verschiedenen Leseperformances vertreten.
© León Ausserer
Wann haben sich erste Anzeichen gezeigt, dass deine Kreativität und deine mentale Gesundheit in einem kritischen Zusammenhang stehen könnten?
Recht früh in der Jugend begann Literatur eine große Rolle in meinem Leben zu spielen. Vor allem durch die von der Romantik inspirierte Musik von Peter Doherty fing ich an, mich für Werke wie die von Baudelaire, Genet und den französischen Existenzialisten zu interessieren. Ich verschlang die Klassiker und begann, selbst zu schreiben. Doch parallel dazu schlich sich die Depression ein. Über die Jahre wurde sie schlimmer, bis ich 2023 endlich den passenden Therapeuten fand und mit Medikamenten richtig eingestellt wurde. Vorher hatte ich Phasen, in denen ich über Monate mein Bett oder mein Zimmer nicht verlassen konnte. Diese Zeiten machten mich komplett lebensunfähig.
Wie beeinflusst die Depression deine kreative Arbeit – hemmt sie oder inspiriert sie dich?
Definitiv beeinflusst sie meine Kreativität. Am Anfang konnte ich einer gewissen Melancholie noch etwas Inspirierendes abgewinnen, aber rückblickend wirken diese Texte flach und verkitscht. Mit der Verstärkung der Depression kam eine totale Blockade: Über Jahre hinweg schrieb ich kaum. Kreativität braucht Energie, und die Depression hat mir diese komplett genommen. In Momenten der Hoffnung entstanden zwar kleine Texte, aber über weite Strecken war da nichts.
Hast du das Gefühl, dass Gedichte deine Stimmung verstärken können – im positiven wie im negativen Sinne?
Immer. Lyrik muss etwas in einem auslösen, sonst erfüllt sie ihren Zweck nicht. Literatur berührt mich ständig, beeinflusst meinen Blick auf die Welt, mein Denken und die Art, wie ich über mich selbst reflektiere. Natürlich verstärken Gedichte Gefühle sowohl positiv als auch negativ. Aber nach langen depressiven Phasen bin ich über jedes Gefühl froh – es zeigt mir, dass ich überhaupt etwas spüre.

Gibt es Kipppunkte, an denen der kreative Höhenflug in psychische Dunkelheit umschlägt – oder umgekehrt?
Ich glaube, dass das sehr individuell ist. Bei Depressionen sehe ich keine klaren Kipppunkte, die man vorhersagen könnte. Die Krankheit ist ein ständiger Begleiter, der selbst entscheidet, wann und wie stark er Druck ausübt. Die kreative Arbeit hingegen ist oft stark von äußeren Faktoren beeinflusst, wie Schlafmangel oder Isolation. Struktur hilft zwar, aber es braucht auch Raum für Chaos, um neuen Einflüssen Platz zu geben.
Welche Rolle spielen äußere Faktoren wie Schlafmangel, Isolation oder andere Einflüsse?
Es gibt viele Faktoren, die sowohl meine Kreativität als auch meine mentale Gesundheit beeinflussen. Schlafmangel und Isolation sind sicherlich belastend, aber manchmal braucht es auch ein gewisses Maß an Chaos, um kreative Ideen zuzulassen. Drogen spielten in meinem Leben ebenfalls eine Rolle – sie können sowohl förderlich als auch zerstörerisch wirken. Wichtig ist, auf sich selbst zu hören und die eigene Balance zu finden.
Welche Strategien helfen dir, den Balanceakt zwischen kreativer Arbeit und mentaler Gesundheit zu meistern?
Seit über einem Jahr mache ich eine KIP-Therapie (Katathym Imaginative Psychotherapie). Diese Therapie geht über normale Gesprächstherapien hinaus und bezieht kreative Prozesse sowie Tagträume ein. Das hilft mir enorm – nicht nur in Bezug auf meine psychische Erkrankung, sondern auch für mein Schreiben und mein Verständnis von Kreativität. Außerdem habe ich mit meinem Therapeuten eine Art Übersicht entwickelt, die mir zeigt, welche Hilfsmittel mir durch schwierige Phasen helfen.
Wie gehst du mit Rückschlägen um, sei es in der Kreativität oder im Umgang mit der Depression?
Offenheit ist das Wichtigste. Wenn ich nicht schreiben kann, konsumiere ich in solchen Momenten Kunst anderer Menschen. Bei der Depression ist es jedoch schwieriger. Rückschläge lösen die Angst aus, dass diese Zustände lange anhalten könnten. Doch ich habe gelernt, dass das Wichtigste ist, sich mitzuteilen und nicht in sich selbst zu versinken.
Welche Rolle spielt Perfektionismus in deinem kreativen Prozess? Kann er auch ein Kipppunkt sein?
Perfektionismus spielt definitiv eine Rolle. Der Moment, in dem man entscheidet, dass ein Werk fertig ist, geht oft mit Zweifeln einher – an der eigenen Arbeit und an sich selbst. Kreative Prozesse abzuschließen, ist ein ständiges Ringen. Aber ich habe gelernt, dass Zweifel normal sind und man damit umgehen kann – mal besser, mal schlechter.
Inwiefern geben dir Rituale und dein Umfeld Stabilität?
Rituale wie Schreiben, Lesen, Theater oder Museumsbesuche geben mir Halt. Alles, was mit Kunst zu tun hat, hilft mir, eine bewusste Verbindung zu meinem Leben und meiner Freiheit zu spüren. Gleichzeitig stütze ich mich auf mein Umfeld – eine Handvoll besonderer, feinfühliger Menschen, die ich meine Familie nenne. Sie sind nicht nur in schwierigen Zeiten für mich da, sondern teilen auch die Freude an meinem Leben und an der Kunst.
Welche Themen verarbeitest du in deinen Gedichten?
Meine Gedichte waren früher sehr Ich-Bezogen, eine Art Darstellung meiner eigenen Gefühlswelt, meiner Liebe zu Menschen. Mittlerweile nutze ich Lyrik, um mich sprachlich und stilistisch auszuprobieren, neue Ausdrucksweisen zu finden, sprich die Sprache an ihre Grenzen zu treiben.
Was möchtest du mit deinen Texten bewirken?
Mein Schreiben soll das Menschsein verinnerlichen und ausdrücken, Denkimpulse geben und einen gesellschaftlichen Mehrwert schaffen. Es ist meine Art, sowohl mit meinen inneren Abgründen als auch mit der Welt umzugehen – und diese Prozesse in Worte zu fassen.
Gibt es Gedichte von dir, die deine Erfahrungen besonders gut beschreiben?
TRITTE
ein halstuch
schöner stoff
anschmiegsam
zuziehen
bis das atmen
schwer fälltkein nach unten treten
ein auf sich selbst treten
ein den kopf auf den bordstein legen
und darauf warten
bis der kopf zerplatzt
zertreten
