Begonnen hat alles mit den Schulschwänzern. Die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen war schon vor der Pandemie ein drängendes Thema. Die Zahl der Jugendlichen, die der Schule fernbleiben, stieg. Viele von ihnen schienen den Anschluss zu verlieren, manche galten als „verloren“. Ein Kipppunkt für die Mittelschule in Baden, für sie war klar: So konnte es nicht weitergehen. Das Wahlfach „MUVE“ wurde entwickelt, um Schülerinnen und Schüler gezielt zu stärken und ihre Widerstandskraft zu fördern.
Ein Blick auf ein innovatives Konzept, das Selbstvertrauen und Verantwortungsbewusstsein in den Mittelpunkt des Schulalltags rückt.
Von Luana Rothner und Isis Lauermann
Die wachsende Bedeutung der mentalen Gesundheit von Jugendlichen
Ein Thema, das für viele junge Menschen und ihre Familien zunehmend an Bedeutung gewinnt: die mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Schon vor der Corona-Pandemie sind psychische Belastungen wie Ängste, Druck und Erschöpfung im Alltag von Schüler*innen deutlich gestiegen. Der Kipppunkt: Eine Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Schüler*innen beobachteten die Lehrkräfte der Mittelschule Baden jedoch schon mehrere Jahre vor der Pandemie.
Eine Mittelschule in Baden hat sich diesem wachsenden Problem gestellt und das Wahlfach „MUVE“ entwickelt, um Resilienz gezielt zu fördern. Dieses Unterrichtsfach soll Kinder stärken, ihnen Mut machen und Verantwortungsbewusstsein vermitteln. Doch wie sieht ein Unterricht aus, der die psychische Gesundheit und Selbstvertrauen aktiv stärkt?
Einblicke in diesen Ansatz geben Direktorin Brigitte Gumilar und Lehrer Franz Albel.
Der Kipppunkt der Mittelschule Pelzgasse in Baden ist bereits 2014 erreicht und während der Pandemie verschlechtert sich die mentale Gesundheit der Schüler*innen noch einmal. Viele Schüler*innen möchten gar nicht mehr in die Schule gehen, erklärt Brigitte Gumilar:
Ihre Hauptangst aus meiner Sicht ist immer, blamiert zu werden, vor den anderen nicht gut dazustehen. Mit Druck umzugehen, ist für viele fast nicht mehr zu schaffen. Und wenn ich viele meine, dann ist es vielleicht nicht eine Masse, aber an einer Schule wie wir sind es schon mal mindestens zehn Personen.
Resilienzförderung durch das Wahlfach „MUVE“
Als 2014 die Zeit der Hauptschulen zu Ende ging und man das Konzept der damals neuen Mittelschule übernommen hat, gab es die Möglichkeit, dass Schulen autonome Fächer einführen und diese Fächer nach den Begabungen der Kinder ausrichten. Neben naturwissenschaftlichen und musisch-kreativen Fächern hat die Mittelschule in Baden unter anderem auch MUVE entwickelt.
Den Lehrer*innen am Schulstandort ist aufgefallen, dass vielen Kindern so etwas wie Selbstwirksamkeit fehlt. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt am Schulstandort immer wieder mit Kindern zu tun, die die Schule verweigert haben. Damals hat man noch nicht von Schulverweigerung aus psychischen Gründen gesprochen. Das waren Schulschwänzer. Aufmerksamen Lehrer*innen hier ist aufgefallen, dass Kinder, die selbstwirksam agieren, seltener in der Schule fehlen. Das war mit ein Hauptgrund. Also haben wir gemeinsam entwickelt, dass es Projekte und Reflexionen geben wird, wo die Kinder lernen, ihre Fähigkeiten besser einzuschätzen und dadurch mutige Entscheidungen treffen. Sie übernehmen Verantwortung für sich selbst, andere und die Gemeinschaft, was sich dann später in ihrem sozialen Verhalten zeigt. Es geschehen Übungen zur Kommunikation und zur Förderung der Empathie. Umwelt- und Sozialprojekte werden auch durchgeführt. Ich denke, die Jugendlichen beschäftigt, was sie immer beschäftigt hat. Die Fragen: “Komme ich gut an? Bin ich beliebt? Werde ich angenommen?” Das ist wahrscheinlich das, was sie am meisten bewegt. erklärt Brigitte Gumilar.
Die Lehrkräfte versuchen dabei so weit es ihnen das Schulsystem ermöglicht auf die Kinder einzugehen und verständnisvoll mit ihnen umzugehen:
Wir ringen enorm, auch den Kindern entgegenzukommen, Dinge zu ermöglichen, die es im Schulwesen gar nicht gibt, von der Einzelbetreuung bis hin zur Fernlehre. Wir ermöglichen Prüfungssituationen, wo ein Kind ganz alleine sein darf, wo Rahmenbedingungen so stark verändert werden, dass man nur mehr in Rufweite des Gesetzes ist. Und wir versuchen, Beziehungen aufzubauen, so gut das geht.
Eine Art, wie Kindern geholfen werden soll, mit den Herausforderungen des Alltags umzugehen, ist das Wahlfach MUVE, kurz für Mut und Verantwortung. Das Ziel des Faches ist es, Resilienz zu fördern.
Resilienz beschreibt die Fähigkeit, Herausforderungen zu bewältigen und aus ihnen gestärkt hervorzugehen. Zu den wichtigsten Kompetenzen gehören Verantwortungsbewusstsein, Unabhängigkeit, Kreativität und Mut. Eine mangelnde Resilienz bei Kindern konnte Brigitte Gumilar besonders in den letzten Jahren beobachten. Die Schule allein sei aber nicht dafür verantwortlich, Resilienz zu stärken:
Es gibt viele Faktoren, auch private, die dazu beitragen, ob ein Kind diese mentale Stärke aufbaut oder nicht. Jedenfalls ist es wichtig, dass die Schule Stärken stärkt und die Wirksamkeit der Schülerinnen und Schüler unterstützt, sodass sie sich selbst etwas zutrauen und sie auch selber glauben, dass sie ihr Leben meistern können mitsamt allen Herausforderungen, die auf sie warten.
Resilienz fördern: Ein Schlüssel zu starken Persönlichkeiten
Resilienz kann bei Kindern jeden Alters gefördert werden. Vielen Eltern fällt es jedoch schwer, ihren Kindern Verantwortung zu übertragen. Franz Albel erinnert sich:
„Ich war im September als Referent zum Thema Resilienz eingeladen. Nach meinem Vortrag über psychische Widerstandskraft hatten die anwesenden Eltern die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Eine Mutter fragte mich: ‚Könnten Sie mir in ein, zwei Sätzen erklären, wie meine Tochter resilient wird?‘ Ich antwortete: ‚Lassen Sie Ihr Kind einen Nagel einschlagen.‘ Die Mutter war entsetzt: ‚Meine Tochter ist sieben Jahre alt. Sie kann keinen Nagel einschlagen!‘ Daraufhin sagte ich: “Genau das ist der Punkt. Wenn wir unseren Kindern nichts zutrauen, werden sie unsichere Jugendliche. Unsichere Jugendliche werden später unsichere Erwachsene. Und unsichere Erwachsene werden Menschen, die sich nichts zutrauen und alles andere als resilient sind.‘“
Mut und Verantwortung: Ein praxisorientiertes Wahlfach
Für Schüler*innen der siebten und achten Schulstufe bietet das Wahlfach „Mut und Verantwortung“ eine altersgerechte Möglichkeit, Resilienz aktiv zu entwickeln. Jugendliche benötigen größere Herausforderungen als das Einschlagen eines Nagels. In MUVE lernen sie die sieben Säulen der Resilienz: eine positive Grundhaltung, Akzeptanz und Annehmen, Selbstwirksamkeit, Verantwortungsbewusstsein, aktive Beziehungsgestaltung, Lösungsfokus und Zukunftsorientierung.
Im Mittelpunkt des Unterrichts steht ein praktischer Ansatz: Die Jugendlichen entwickeln, planen und präsentieren eigenständig kreative Projekte wie Kurzfilme oder engagieren sich bei der Konzeption eines Raumes zum Entspannen im Schulgebäude. Diese praktische Arbeit fördert nicht nur Eigenverantwortung, sondern stärkt auch persönliche Kompetenzen wie Selbstbewusstsein und Teamfähigkeit.
Franz Albel beobachtet die positiven Auswirkungen des Wahlfachs deutlich: „Kinder, die an MUVE teilnehmen, wirken selbstsicherer. Besonders bemerkenswert ist, dass auch die Stillen eine Stimme finden. Gerade nach der Corona-Pandemie, in der viele Kinder verstummt sind, gibt das Wahlfach den leisen und zurückhaltenden Jugendlichen wieder Raum, sich auszudrücken.
Das Selbstbewusstsein der Schüler*innen wächst spürbar durch die Planung und Umsetzung eigener Projekte. Sie gehen selbstsicherer an Aufgaben heran und erleben, wie ihre Fähigkeiten Anerkennung finden.
Anfangs sollte das Fach noch „Glück“ heißen, erzählt uns Frau Gulimar:
Davor haben wir einen Gegenstand und haben ihn Glück genannt. Und es hat mir dann jemand bei einer Präsentation gesagt: “Man kann nicht Kindern das Gefühl vermitteln: Glück ist erlernbar. Eigentlich ist das auch richtig. Ich habe dann schon darüber nachgedacht, aber ist bis zu einem gewissen Grad erlernbar: Mut und Verantwortung zu zeigen und zu übernehmen, das kann man lernen, wenn man Bewusstsein dafür schafft. Und deswegen ist für mich an sich das Ereignis.
Franz Albel untersuchte für seine Dissertation, ob Schüler*innen durch MUVE lösungsorientierter, resilienter und selbstbewusster werden. Der Lehrer verglich Verhalten und Kompetenzen der Schüler*innen vor und nach den Unterrichtsphasen von MUVE. Er kann zufrieden sein: Das Konzept hält, was es verspricht. Die Resilienz der Jugendlichen steigt.
Wer sich genauer mit den Ergebnissen von Franz Albels Forschung auseinandersetzen möchte, kann sein Buch „Durch Mut und Verantwortung zu Resilienz und innerer Stärke“, erschienen in Schriften zur pädagogischen Psychologie lesen. Franz Albels Lieblingspassage aus seinem Buch ist folgender Absatz:
Einen Bogen zu meinen vorhergehenden Worten spannen soll ein Fallbeispiel eines elfjährigen Mädchens. Seine Mutter ist früh verstorben, sein Vater lebt in einem anderen Land und kümmert sich nur sporadisch sein Kind und eine Fremdunterbringung des Einzelkindes ist letztlich gescheitert.
Aufgrund schwerer Verhaltensauffälligkeiten und Leistungsdefizite kann dieses Mädchen nicht beschult werden. Weiters zeigt das Kind nach auch Anzeichen von Verwahrlosung. Das Mädchen, welches an dieser Stelle vorgestellt wurde, ist vielen Menschen gut bekannt. Es handelt sich Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf. Mit einem ganz individuellen Zugang zu ihren persönlichen Stärken und ihrem großen Repertoire- und Bewältigungsstrategien. Dieses Kind hat mit seiner ausgeprägten positiven Grundhaltung vielerlei Ideen, wie es Probleme lösen kann, ist neugierig, stellt Fragen und zeigt zudem viel unerschütterlichen Humor, ist zielorientiert in seinen Anliegen und hat stets eine unerschütterliche Selbstwirksamkeitserwartung. Das Mädchen mit den roten Zöpfen ist also das Symbol für Resilienz und psychische Widerstandskraft in stürmischen Zeiten.
Beeindruckt sind Albel und Gulimar von allen Schüler*innen und ihren Erfolgen durch MUVE. Albel freut sich aktuell auf den geplanten Kurzfilm von geflüchteten ukrainischen Schüler*innen mit dem Titel „Der verpasste Anruf“. Ein weiteres Projekt der Schüler*innen war ein Video zu den F-Wörtern, also den verschiedenen Säulen des Schulfaches MUVE: Function, Family, Fitness, Friends, Fun und Future. Im Video erzählen die Schüler*innen, welche Bedeutung diese Begriffe in ihren Leben haben. Eine Schülerin erzählt:
Wie wichtig es ist, Freunde zu haben, haben wir in MUVE schon gelernt. Ich merke, dass Freundschaften mir helfen, mich wohler zu fühlen und gemeinsam mehr zu erreichen. In MUVE hab ich die Chance, enge Freundschaften mit meinen Mitschüler*innen zu schließen und gemeinsam zu wachsen.
Resilienzförderung: Ein dringender Appell an das Bildungssystem
In der Mittelschule Baden ist die Förderung von Resilienz fest im Stundenplan verankert. Direktion, Lehrkräfte und Schüler*innen möchten das Wahlfach MUVE nicht mehr missen. Doch bis solche Programme in ganz Österreich Einzug halten, ist es noch ein weiter Weg.
Schulleiterin Brigitte Gumilar äußert seit langem den Wunsch, dass das Bildungsministerium mehr Wert auf soziale Inklusion legt. Sie ist jedoch skeptisch, dass sich kurzfristig etwas ändern wird:
Ich habe meine Sorgen, die psychische Stärke Kinder betreffend und das damit gezeigte Verhalten – nämlich Angst vor allem, was mit Schule in Verbindung steht, Angst vor Mitschülerinnen, Angst vor Lehrerinnen, Angst bewertet und benotet zu werden, glaube ich, an allen wichtigen Stellen zum Ausdruck gebracht. Ich kann keine Veränderung bemerken, der Fokus ist auf Noten. Schule hat natürlich auch diesen Aspekt Wissenserwerb, aber ich denke, der Wissenserwerb ist nur dann möglich, wenn es sich hier um einen Menschen handelt, der ausreichend resilient ist. Und ich kann keine große Veränderung bemerken.
Ihr Appell an das Bildungsministerium lautet, soziale Fächer wie MUVE oder Theaterspielen zu festen Bestandteilen des Schulsystems zu machen. Sie ist überzeugt, dass viele Kinder dem aktuellen Leistungsdruck kaum standhalten können. In ihrer Schule setzt sie MUVE gezielt ein, um diesem Druck entgegenzuwirken. Doch wie lange es dauern wird, bis sich solche Ansätze flächendeckend etablieren, bleibt ungewiss.
Ich bin leider nicht so positiv gestimmt und vor allem, ich habe ja natürlich auch nicht das Rezept für die Lösung. Was ich habe, ist ganz sicher ein enormes Problembewusstsein. Und wenn es dieses gäbe an allen verantwortlichen Stellen, wäre Hoffnung vielleicht angesagt. Ich glaube, man kann aber dieses Problem nur fühlen, wenn man tagtäglich bei Kindern ist. Durch das Erzähltbekommen von diesen kleinen Persönlichkeiten hat man vielleicht zu wenig Kraft, weniger zu verändern.
Erfolge feiern durch Verantwortung lernen
Nach Weihnachten steht für die MUVE-Gruppe der Mittelschule Baden ein aufregendes Programm an. Mit ihrem Preisgeld von 2.000 Euro haben die Schülerinnen und Schüler große Pläne.
Einmal ist unsere Überlegung, dass wir einen Workshop mit den Kindern machen, der über die Wirkung von Alkohol und Drogen aufklärt. Da werden zum Beispiel Rauschbrillen eingesetzt, die auf Gefahren von Drogen und Alkohol hinweisen. Und wir denken, dass die Schülerinnen und Schüler mit vierzehn, fünfzehn die ideale und richtige Zielgruppe dafür sind.
Doch auch der Spaß soll nicht zu kurz kommen. Mit dem verbleibenden Geld plant die Gruppe, im Sommer einen gemeinsamen Ausflug in einen Freizeitpark zu unternehmen. Denn für Franz Albel ist es wichtig, dass die Kinder nicht nur lernen, sondern auch ihre Erfolge feiern können. Auf diese Weise verbindet die MUVE-Gruppe Verantwortung und Bildung im Workshop mit Mut und Teamgeist bei einer Achterbahnfahrt im Freizeitpark.
Der Kipppunkt, an dem Jugendliche beginnen, die Schule zu verweigern und mentale Probleme entwickeln, entsteht häufig, wenn sie dem zunehmenden Druck und den Ängsten nicht mehr standhalten können. Die Mittelschule Baden zeigt mit Ansätzen wie MUVE, dass durch gezielte Resilienzförderung und die Stärkung von Selbstwirksamkeit dieser Punkt verhindert werden kann. Gleichzeitig beweisen die vielseitigen Projekte, dass eine solche Förderung nicht nur die Persönlichkeit stärkt, sondern auch Freude, Gemeinschaft und Zuversicht in den Schulalltag bringt – eine wertvolle Inspiration für Schulen in ganz Österreich.
